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«Der Umstieg auf Erneuerbare würde sich auch lohnen, wenn es keine Klimakrise gäbe»

Anthony Patt, geboren 1965, ist Professor für Klimapolitik am Institut für Umweltentscheidungen der ETH Zürich und koordinierender Hauptautor des Sechsten Sachstandsberichts des IPCC, der diesen Sommer und Herbst erscheinen wird. Patt ist in Massachusetts geboren und lebt mit seiner Familie im Zürcher Oberland. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Gletscher-Initiative.

Wir haben unseren Interviewtermin verschieben müssen, weil du eine IPCC-Sitzung hattest. Ihr seid im Endspurt für den Sechsten Sachstandsbericht. Ihr diskutiert da auf höchstem wissenschaftlichem Niveau – und gleichzeitig läuft in der Schweiz die Debatte zum CO2-Gesetz, wo man um ein paar Rappen Benzinpreis streitet. Die Diskrepanz muss gross sein …

Nun, es gibt auch Parallelen. Der SVP ist es gelungen, Klimaschutz als etwas darzustellen, was kostet. Das sehen auch viele so, die das Klima schützen wollen: Sie sagen, wir müssen diese Kosten in Kauf nehmen, weil das, was auf dem Spiel steht, wichtiger ist. Sie sagen, die Menschen sind egoistisch, man muss den Egoismus überwinden – und stützen damit letztlich die Sichtweise der SVP, dass Klimaschutz etwas ist, was weh tut. Es gibt aber eine ganz andere Art, Klimaschutz wahrzunehmen: als etwas, das Synergien schafft. Und ich bin überzeugt, dass es viel mehr Synergien gibt als Konflikte. Aber es gibt auch im IPCC beide Sichtweisen. 

Von welchen Synergien sprichst du?

Erneuerbare Energie ist heute schon gleich teuer oder billiger als fossile Energie, und wenn man dann noch alle ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgekosten rechnet, ist der Nutzen riesig.

Die Umstellung auf erneuerbare Energie würde sich auch lohnen, wenn es keine Klimakrise gäbe.

Im Februar hat der Bundesrat seine Langfristige Klimastrategie präsentiert, die wiederum auf den Energieperspektiven 2050+ vom letzten November basiert. Was hältst du davon?

Ich bin sehr froh, dass wir eine solche Netto-Null-Strategie haben. Wenn man vergleicht, wo wir vor fünf Jahren standen, ist der Wandel erstaunlich. Aber auch mit der Klimastrategie des Bundesrats sind wir noch nicht, wo wir sein müssten.

Die Klimastrategie sieht vor, dass die Emissionen vorerst nur langsam sinken und die Klimapolitik erst ab 2030 ambitionierter wird. Ist das sinnvoll?

Die ökonomischen Modelle, die wir jetzt im IPCC begutachten, zeigen erstens, dass der Nutzen der Umstellung des Energiesystems grösser ist als die Kosten. Und zweitens, dass dieser Nutzen umso grösser ausfällt, je früher man beginnt. Es ist also nicht sinnvoll, länger zu warten. Darum enttäuscht mich die Klimastrategie – obwohl ich die politischen Schwierigkeiten sehe.

An deinem Lehrstuhl habt ihr eigene Energieszenarien für die Schweiz gerechnet. Gibt es da Differenzen?

Keine grosse, aber viele kleine. Die wichtigste: Die Energieperspektiven des Bundes sehen vor, dass wir den Strom aus erneuerbarer Produktion möglichst im Inland produzieren. Strom wird in Zukunft ja der wichtigste Energieträger sein. Unsere Forschung zeigt, dass es optimal wäre, etwa 25 Prozent zu importieren. Damit wäre der Selbstversorgungsgrad der Schweiz ja immer noch viel höher als heute, wo wir 75 Prozent der Energieträger – Erdöl, Erdgas, Uran – importieren. 

Die ökonomischen Modelle, die wir jetzt im IPCC begutachten, zeigen erstens, dass der Nutzen der Umstellung des Energiesystems grösser ist als die Kosten. Und zweitens, dass dieser Nutzen umso grösser ausfällt, je früher man beginnt.

Warum wäre ein Anteil Importstrom sinnvoll?

Der wichtigste Unsicherheitsfaktor ist nicht irgendein böser Diktator in einem fremden Land, sondern das Wetter. Die wichtigsten Quellen für erneuerbaren Strom werden Sonne und Wind sein. Für beides ist das Wetter in der Schweiz nicht ideal. Wir gewinnen Versorgungssicherheit, wenn wir importieren. Dazu kommt, dass der ökologische Fussabdruck pro Kilowattstunde Strom im Ausland oft kleiner ist als in der Schweiz – weil bei intensiverer Sonnenstrahlung pro Photovoltaik-Panel mehr Energie anfällt.  

Wenn man ausrechnet, wieviel CO2 die Schweiz mit der Langfristigen Klimastrategie insgesamt noch emittieren wird, bis netto Null erreicht ist, so wäre das etwa das Drei- bis Vierfache dessen, was die Schweiz noch emittieren darf. Ist ein Szenario, in dem die Schweiz ihr «CO2-Budget» einhält, überhaupt noch möglich?

Ich glaube, wenn wir schnell handeln, können wir das noch schaffen – aber ich bin mir nicht sicher. Man kann Emissionen auf zwei Arten senken: Man kann den Menschen Dinge sofort verbieten, die Emissionen verursachen. Das kann sehr schnell gehen, wie wir in den Corona-Lockdowns gesehen haben. Aber es verursacht einen hohen politischen Backlash: Die Leute wehren sich – das war ja wohl auch ein Grund, warum die zweite Corona-Welle im Herbst 2020 so hart zugeschlagen hat. Oder man kann die Fähigkeit aufbauen, ohne fossile Energie zu leben, indem man den Verbrauch fossiler Energie in dem Mass zurückdrängt, wie Alternativen hinzu kommen. Das dauert länger, ist aber politisch nachhaltiger. Vielleicht sind wir so nicht schnell genug. Darum müssen wir unbedingt über Methoden nachdenken, CO2 aus der Luft zu holen. Das wird teuer, aber der Nutzen wird vermutlich höher sein als die Kosten.

Die Langfristige Klimastrategie setzt doch bereits recht stark auf sogenannte Negativ-Emissionstechniken (NET).

Ja, vor allem wegen der Landwirtschaft. Die landwirtschaftlichen Emissionen zu senken, ist politisch noch nicht mehrheitsfähig. Es ist wichtig, dass wir die NET nicht als Vorwand brauchen, die Emissionen weniger schnell zu senken. Wir brauchen sie zusätzlich

Wir müssen unbedingt über Methoden nachdenken, CO2 aus der Luft zu holen. Das wird teuer, aber der Nutzen wird vermutlich höher sein als die Kosten.

In der Energiedebatte und auch jetzt im Abstimmungskampf zum CO2-Gesetz ist viel von «Innovation» die Rede, und damit meint man meistens, dass neue Techniken entwickelt werden müssen. Ist das richtig?

Viel wichtiger, als neue Techniken zu erfinden, ist es, dafür zu sorgen, dass Techniken, die bereits existieren, sich auch durchsetzen. In den Labors der Hochschule werden viele spannende Techniken entwickelt. Aber die Innovationen, die dazu geführt haben, dass die Photovoltaik so günstig geworden ist, fand in der Industrie statt, nicht in den Labors. 

Also müssen wir auf Privatinitiative warten?

Nein, nicht warten: Es geht darum, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen und die Techniken, die wir brauchen, zu fördern. Man kann das direkt oder indirekt tun. Man kann Elektroautos fördern, indem man Autos mit Verbrennungsmotoren verteuert oder verbietet. Oder man kann die nötige Infrastruktur aufbauen. 

Du sprichst an, dass Technik in Systemen funktioniert: Ein Fahrzeug taugt nichts ohne die nötige Infrastruktur. Die Klimastreikenden fordern «System Change not Climate Change»; der IPCC-Spezialbericht von 2018 hat festgestellt, dass wir «weitreichende Systemübergänge in allen Bereichen» brauchen, um die Klimaziele zu erreichen. Was ist eigentlich ein System?

Nun, was ist kein System? Alles ist ein System! Etwas systemisch zu betrachten, heisst, nicht eine bestimmte Technik in den Blick zu nehmen, sondern zu fragen, was die Leute in ihren Leben tun wollen und wie sie es ohne Emissionen tun könnten. Ein Beispiel: Strom aus Photovoltaik ist billig, aber wenn man ihn nachts braucht, hat man ein Problem. Nun kann die Speicherkapazitäten ausbauen. Das ist aber nicht sehr sinnvoll, denn am Ende kostet das Speichern mehr als die Produktion. Ein systemischer Ansatz schaut, wo wir sonst noch Strom brauchen und wo es mehr Flexibilität gibt. Eine Autobatterie kann man zu einer beliebigen Tageszeit laden, eine Waschmaschine kann am Tag oder in der Nacht waschen. Das kann man nutzen. 

Und dann braucht man keine zusätzliche Speicherkapazität?

Unsere Forschung hat gezeigt, dass wir kaum zusätzliche Speicherkapazität brauchen, wenn wir erstens einen Teil des Strom importieren – denn Windstrom ist dann billig, wenn Sonnenenergie knapp ist – und zweitens schauen, wie und wann die Leute ihre Autos laden. Das ist eine riesige Ressource. 

Im Mai hat die Internationale Energieagentur IEA einen Bericht publiziert, der zeigt, wie man das 1,5-Grad-Ziel noch erreichen kann. 

Ich habe den Bericht noch nicht studiert, aber allein, dass es ihn gibt, ist sensationell. Die IEA war gegenüber den erneuerbaren Energien bisher nicht sehr offen eingestellt. Ihre Prognosen zur Solarenergie der letzten Jahre wurden um Grössenordnungen übertroffen…

Auch die Klimastreikenden haben einen Plan, wie die Schweiz einen fairen Beitrag zum globalen 1,5-Grad-Ziel leisten könnte: den Climate Action Plan (CAP). 

Da habe ich mitgearbeitet und es war unglaublich toll, wie diese jungen Leute ein so komplexes Projekt koordiniert haben! Die Zielsetzung war klar: Der CAP sollte zeigen, was technisch und ökonomisch möglich ist, aber nicht unbedingt, ob es auch politisch umsetzbar ist. Ich finde das eine gute Vorgabe. Wenn man etwas, was politisch nicht durchsetzbar erscheint, gar nicht in Betracht zieht, verpasst man Chancen – dieses Risiko besteht auch im IPCC-Prozess. Allerdings bergen die wirklich radikalen Vorschläge die Gefahr, dass man die Sichtweise unterstützt, Klimaschutz müsse weh tun…